„Ich werde meinen Entschluss nicht ändern.“ Marco Polo beschleunigte seine Schritte. Die Kieselsteine unter seinen Schuhen knirschten erbost. Alarmiert verlangsamte er sein Tempo und starrte in die Dunkelheit. Der Park der Harmonie, der die männliche Welt vom Frauenhof trennte, schlummerte friedlich unter einem sternenlosen Himmel. Längst war der Garten zu düster, um die Augen der Kaiserin und der Konkubinen zu erfreuen. Ihre Stimmen waren ebenso verstummt wie der Gesang der Sonnenvögel und Spottdrosseln.
„Sie werden Euch pfählen.“ Long Bais Mondgesicht war weiß wie Schnee. Zwei Strähnen des langen Haars umrahmten sein Antlitz wie Holzstangen eine Papyrusrolle. Mit jedem Schritt, den sie zurücklegten, entfernte er sich mit schlotternden Knien und zittriger Stimme weiter von seinem Versprechen. „Und mich ebenfalls. Lasst uns umkehren.“
„Ihr gabt mir Euer Wort! Ich werde die Stadt nicht ohne Xinxin verlassen. Behaltet einen kühlen Kopf und erinnert Euch an unsere Abmachung.“ Seine Nasenflügel bebten. Vor dem Teich der Besinnung hielt er inne, um seine Verärgerung abzustreifen. Beim Anblick des Naturschauspiels entspannten sich seine Muskeln. Die Lotusblüten schlossen ihre Blätter, um unter die Wasseroberfläche zu tauchen und ihre Schönheit bis zur Morgendämmerung zu verbergen. „Ihr braucht uns nur an den Wachen vorbeizuführen und einige Stunden Unterschlupf zu gewähren. Bei Tagesanbruch verlassen wir Luòyáng und schließen uns der Karawane an. Als Mann verkleidet, wird sie niemand erkennen.“
„Wenn Ihr eine Tänzerin gewählt hättet, könnte ich es vielleicht noch verstehen. Aber sein Leben für ein Besenmädchen riskieren?“ Er schüttelte den Kopf.
„Ihr kennt die Liebe nicht.“ Sein Herz trommelte mit beiden Fäusten gegen die Brust. Der Mond schaute hinter der dichten Wolkendecke hervor, strich mit seinen Silberfingern über einen Blumenteppich und legte sich wieder zur Ruhe.
„Wie könnt Ihr das sagen? Ich habe eine Frau und fünf Kinder.“ Eine Hand bettete sich auf sein Herz, als hätte ein Schattenspieler sie dort mit einem Führungsstab aus Bambus abgelegt. „Ich lasse mich auf dieses Wagnis nur der Liebe wegen ein. Mit Euren Münzen ist es mir möglich, meine Familie ein Jahr zu ernähren.“
„Ihr seht, es lohnt sich. Also, seid leise. Sonst werden die Wachen auf uns aufmerksam.“ Er wandte sich von ihm ab und setzte seinen Weg fort.
Sein Begleiter hielt endlich den Mund.
Der Pfad schlängelte sich entlang eines Bachs, führte durch einen Laubengang und teilte sich dann wie die Zunge einer Kobra.
Marco Polo wandte sich nach rechts. Schon wenige Schritte später zeichnete sich der majestätische Umriss der Ost-Pagode vor dem Himmelsgewölbe ab. Ein inneres Leuchten erfüllte seine Augen. Er hatte den Treffpunkt fast erreicht. Gleich würde er seine Geliebte in den Armen halten. Alles würde gut.
Doch da!
Was war das?
Stimmen! Sie kletterten in seinen Gehörgang. Erst leise, fast unwirklich, dann lauter. Die Härchen in seinem Nacken richteten sich auf. Seine Handflächen wurden feucht. Grob packte er den Arm seines Komplizen, legte gleichzeitig den Zeigefinger der freien Hand auf die Lippen. „Wachen“, flüsterte er.
Long Bais schmale Augen weiteten sich. Er deutete zu der Bogenbrücke, die über den Bachverlauf führte. Lautlos glitten sie die Böschung hinab und pressten die Rücken an das Mauerwerk.
Die Stimmen wurden lauter. Sohlen knarrten. Lichtkegel zweier Laternen wanderten über Boden, Büsche und Beete.
Marco presste sich fester gegen das Gemäuer. Ein Lichtstrahl berührte fast die Spitzen seiner Schuhe. Er hielt die Luft an.
Dann sprang das Licht auf das Wasser, huschte in die Höhe und entfernte sich gemeinsam mit den Stimmen.
Er schnappte nach Luft. Sein Mund war trocken. „Sie sind weg“, murmelte er. „Weiter.“
„Es wird nicht gutgehen.“ Long Bais Kopf wackelte wie eine Kong-Ming-Laterne im Wind. „Wir müssen umkehren.“
„Dann werden deine Kinder hungern. Im Jahr der Ratte laufen die Geschäfte schlecht für dich.“
Der Worthieb verletzte den Chinesen wie eine Hellebarde ein Herz. Seine Schultern sackten nach vorne. Ohne eine weitere Erwiderung kraxelte er die Böschung hinauf und schlug den Weg zur Pagode ein.
Marco folgte ihm wortlos. Besorgt bemerkte er, dass der Wind aufgefrischt und die Wolkenschar vertrieben hatte. Der Mond gähnte und bereitete das Bühnenlicht für das bevorstehende Schauspiel. Er musste nun vorsichtiger sein.
Endlich erreichten sie die Ost-Pagode. Vor dem Eingang streckte ein Ginkgobaum seine Arme in die Nacht.
„Dem Herrn sei Dank.“ Rasch zeichnete er das Kreuzzeichen über Stirn und Brust. Er hatte es bis hierher geschafft. Mithilfe Long Bais würde er auch den restlichen Weg bewältigen. Er beschleunigte seine Schritte, erreichte den Baum und umkreiste ihn mit Riesenschritten.
Xinxin war nicht da.
Er schaute in die Baumkrone, lief zum Portal, eilte zurück zum Gingko und biss sich auf die Zunge, um nicht ihren Namen zu rufen. Übelkeit stieg in ihm auf. „Sie müsste längst hier sein.“
„Vielleicht ist die Vernunft in ihren Kopf zurückgekehrt. Sie ist ein besserer Regent als die Liebe.“ Erleichterung breitete sich in seiner Stimme aus.
„Wir warten“, entschied er, lehnte sich gegen den Stamm und verschränkte die Arme vor der Brust. „Sie wird kommen.“
Doch Xinxin kam nicht.
Herzschlag für Herzschlag verstrich die Zeit. Seine Kehle schnürte sich zu. Sein Magen krampfte.
Long Bai räusperte sich. „Es wird gleich hell. Wir müssen uns auf den Rückweg machen. Mein Cousin wird bei der Dämmerung auf seinem Wachposten abgelöst. Dann sind wir hier gefangen und werden unseren Aufenthalt nicht rechtfertigen können.“
Marco Polo presste die Lippen aufeinander und senkte den Kopf. Trotz des Familienbesitzes und gefüllter Körbe und Kisten, die für die Reise nach Venedig bereitstanden und seinen Reichtum mehren würden, fühlte er sich wertlos. „Ihr habt recht“, seine Schultern fielen nach vorne. „Sie wird nicht kommen. Lasst uns gehen.“
Mit weichen Knien trat er den Rückweg an. Jeder Schritt schmerzte ihn. Sein Körper schien schwerer geworden zu sein.
„Das Schicksal meint es gut mit uns“, versuchte Long Bai ihn aufzumuntern. „Wir wurden nicht entdeckt.“
„Das sehe ich anders.“ Nun, wo er einige Schritte gegangen war, erwachte sein Geist zu neuem Leben. „Ich fürchte, ihr ist etwas zugestoßen. Jemand muss von dem Plan erfahren und sie abgefangen haben.“ Er raufte sich die Haare. „Was soll ich nur tun?“ Er richtete die Frage mehr an sich selbst als an seinen Gefährten.
Der Chinese antwortete nicht.
Als sie den Teich der Besinnung erreichten, stand sein Plan fest. „Bitte, hört mich an, Freund.“
Long Bai hielt inne, vermochte allerdings nicht still zu stehen und verlagerte sein Gewicht stoisch von einen auf den anderen Fuß.
„Die Karawane besteht aus unzähligen Händlern, Kamelen und Schlepptieren. Sie werden nur langsam vorankommen. Ich werde sie übermorgen einholen und mich anschließen. Sobald der Tag anbricht, muss ich herausfinden, was passiert ist. Werdet Ihr mir helfen?“
Sein Begleiter richtete die Handflächen gegen ihn. „Kommt nicht in Frage. Diese Nacht ist ein Wink des Schicksals. Beim nächsten Mal werden sie uns töten.“
„Ich erhöhe Euren Lohn auf das Doppelte.“
Er wiegte den Kopf hin und her. „Zu riskant. Falls sie erwischt wurde und wir nach ihr suchen, wird jeder eins und eins zusammenzählen und uns mit der geplanten Flucht in Verbindung bringen.“
„Den doppelten Münzlohn und einen Beutel Jade.“
Ein inneres Leuchten erglomm in Long Bais Augen. Er zögerte kurz. Dann nickte er.
Marco Polo hastete zum Tor. Am Morgen würde er offiziell hindurchtreten, um nach ihr zu suchen. Ob sie noch lebte?