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Treffen mit Carmen im Café Bahar

„Aaaaaach …“ Mein Seufzer fällt auf den Milchschaum in meiner Tasse. Von meinem eigenen Geräusch erschreckt, zucke ich zusammen und schaue mich um. Glücklicherweise hat mich niemand bemerkt. Die weißen Holztische und -stühle im Café Bahar sind von einem bunten Völkchen belebt, das ein fröhliches Stimmenwirrwarr kreiert. Studenten treffen sich hier ebenso wie Frauen mittleren Alters mit Einkaufstüten und ältere Semester mit Dackeln und Konsorten.

An der offenen Theke locken nicht nur Schamong Kaffee und hausgebackene Kuchen, wie Safran-, Walnuss-Zimt- und Mandel-Orangen-Kuchen, sondern auch täglich wechselnde warme Leckereien, zum Beiseispiel Fladini, Curry-Kurkuma-Chicken, persischer Eintopf und vegane Alternativen, die von freundlichem Personal kredenzt werden.
Ich seufze nochmals – dieses Mal leiser. Heute wird es nämlich nicht lustig. Ganz und gar nicht lustig. Carmen müsste jeden Moment eintrudeln, und der Hintergrund dieses Charakters aus meinem aktuellen Thriller ASKLEPIOS gehört eindeutig in die Kategorie Tragik.

„Guck mal da!“, quietscht plötzlich eine Studentin am Nebentisch. „Der Typ sieht aus wie Johnny Depp in dem Film Cholocat!“ Sie springt auf und presst ihre Nase an der Fensterscheibe platt, gefolgt von ihrer Freundin und, jaaaaa, mir. Ich fühle mich ebenfalls inspiriert, aufzuspringen und ein Like zu verteilen. Erstens bin ich seit gefühlten Jahrhunderten Johnnys Möchtegern-Groopy, und zweitens brauche ich dringend ein Aufputschmittel.
     Tatsächlich lehnt an einem Straßenschild ein männliches Wesen mit Skateboard unter dem Arm, das mit viel Fantasie an den jungen Johnny erinnert. Den Mädels scheint die kleine Ähnlichkeit vollkommen auszureichen, um die Köpfe zusammenzustecken und zu gackern. Trotz der geringen Ähnlichkeit drücke ich meine Nase stoisch gegen die Scheibe.

„Hallo, Charlotte.“ Eine Hand legt sich auf meinen Arm. In flagranti ertappt, zucke ich zusammen und fahre herum. „Was gibt’s denn hier zu bestaunen?“ Carmen tritt neben mich ans Fenster und begutachtet die Straße.
     „Ähm, mein Auto. Da!“ Mein Zeigefinger schnellt vor und wird von der Scheibe gestaucht. „Autsch!“, schimpfe ich.
     „Alles okay?“ Eine Sorgenfalte legt sich zwischen ihre Brauen und durchtrennt die Sommersprossen.
     „Kein Problem.“ Ich massiere den Finger mit der anderen Hand.
     „Was ist denn mit dem Auto?“ Carmen wirft ihre rote Wallemähne auf den Rücken und schützt die Augen mit der Hand vor der einfallenden Sonne.
     „Habe vergessen, es abzuschließen“, flunkere ich.
     „Nö“, sie schüttelt den Kopf. „Entspann dich. Die Seitenspiegel sind eingefahren. Alles gut.“
     „Na, dann. Ich sitze dort drüben.“ Auf dem Weg zu unseren Sitzplätzen bestelle ich einen Milchkaffee für Carmen. „Möchtest du etwas essen?“
     „Nein, danke.“ Ein Lächeln zwirbelt an ihren Mundwinkeln. Ich war heute Mittag in der Krankenhauskantine. „Und du?“
     „Danke.“ Ich schüttle verneinend den Kopf. Bei den Gedanken daran, welchen Hintergrund ich ihr zugeschrieben habe, ist mein Magenknurren verstummt.
     Sie scheint die Ursache für meine Appetitlosigkeit erraten zu haben. „Sollen wir es hinter uns bringen?“
     Ich nicke stumm.

„Ich war damals dreizehn. Mein Bruder war fünfzehn und meine Schwester siebzehn Jahre alt. Meine Eltern waren begeisterte Bergsteiger, und im Sommer war immer Aktivurlaub angesagt, was uns als Teenagern gut gefiel. In diesem Sommer fuhren wir nach Österreich. Für den Aufstieg am Seil hatten wir natürlich einen Führer gebucht, der sich in den Bergen auskannte. Aber … ich weiß nicht genau, was passierte …“ Sie macht eine Pause und starrt auf ihre Finger, die sich ineinander verschlungen haben.
     Ich schlucke. Mein schlechtes Gewissen manifestiert sich in einem pochenden Kopfschmerz. Schließlich habe ich ihr diesen Hintergrund zugeschrieben. Ich habe Carmen für Paul erfunden, weil ich eine Figur brauchte, die weiß, was es bedeutet, seine Familie zu verlieren.
     „Einige Haken lösten sich aus dem Gestein. Wir stürzten ab. Mein Seil verfing sich in einem Baum. Dort baumelte ich fast acht Stunden und schaute auf meine tote Familie. Meine Eltern waren auf einem Felsvorsprung gelandet. Meine Mama hatte einen Genickbruch. Sie war sofort tot. Meinem Papa musste ich beim Sterben zusehen. Er hatte mehrere Brüche und verblutete an seinen inneren Verletzungen. Mein Bruder war mit den Füßen in einem Felsspalt verfangen. Er hing acht Stunden kopfüber unter mir. Und meine Schwester …“ Dicke Tränen perlen über ihr Gesicht.
     „Soll ich weitererzählen?“
     Sie wischt sich mit den Handrücken die Tränen von den Wangen.
     „Das Seil deiner Schwester hatte sich ebenfalls im Baum verfangen. Als ihr Ast brach, konntest du ihre Hände fassen. Irgendwann hat deine Kraft nicht mehr gereicht.“
Die nächsten Worte verstehe ich kaum. „Ich habe sie fallen lassen. Ich habe meine Schwester einfach fallen lassen.“

Unter jedem Dach ein Ach.

Herzlichst
Charlotte